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Christen heute, April 2016

Aristoteles: Was kann Philosophie – und was nicht?

Angesichts des Klimawandels träume ich manchmal von einer Gesellschaft, in der gedankliche Reisen in geistige Welten dasselbe Prestige hätten wie heute klimaschädliche Flugreisen. Dann müsste, wer anderen imponieren wollte, nicht von exotischen Durchfallerkrankungen berichten, sondern von – sagen wir – Aristoteles (384 – 322).

 

Herrlich langweilig

Die Aristoteles-Lektüre-gälte dann so viel wie heute ein Abenteuerurlaub im Gebirge: „Boah“, könnte der aus den Büchern Heimgekehrte im atemlos staunenden Freundeskreis protzen, „war das eine Qual! Ist der – langweilig!“ 

Ja, langweilig ist Aristoteles. So richtig schön schauerlich grässlich langweilig. Zwar konnte er auch unterhaltsam schreiben, aber überliefert sind fast nur die zähen Vorlesungs-Mitschriften seiner Studenten. Stoff für geistige Extremsportler, die sich nicht mit dem Lift den Berg rauf- und wieder runterkarren lassen, ohne das Geringste verstanden zu haben. Nein: Wer Aristoteles liest, will verstehen. Mehr noch: Er – oder sie – will verstehen, was Verstehen ist. Denn das hat Aristoteles besonnener, gründlicher und systematischer untersucht als alle Philosophen vor ihm.

„Verstehen“, „Wissen“ – was ist das überhaupt? Wie hängt alles Wissen zusammen? Wer das ergründen will, für den – oder die – gibt es keinen Lift. Der muss ganz unten anfangen und sich mühsam Schritt für Schritt hocharbeiten. Wie Aristoteles das tut, kann ich hier nicht vorstellen. Wer einen ersten Eindruck gewinnen will, findet das Aristoteles-Kapitel aus meinem letzten Buch auf meiner Website. Hier nur so viel: Aristoteles fragt zunächst, was überhaupt nur wahr oder falsch sein kann: Aussagen nämlich, nicht etwa Bitten, Fragen oder Rülpser. Dann schaut er sich genau an, wie korrekte Aussagen aufgebaut sind und wie sich ihr Wahrheitsgehalt überprüfen lässt. Als Nächstes untersucht er Kombinationsregeln: Wie kann ich zwei wahre Aussagen so kombinieren, dass ich eine neue Erkenntnis gewinne? 

 

Der Lohn der Mühen

So arbeitet sich Aristoteles langsam hoch. Oben angenommen, breitet er vor uns die ungeheure Vielfalt der Wirklichkeit aus. Das ist so überwältigend, dass wir unser Bild vom Bergaufstieg korrigieren müssen. Denn Aristoteles ist eben nicht wie ein Bergsteiger, der endlich den Gipfel erklommen hat und nun alles von einem einzigen Standpunkt aus betrachtet. Dieses Bild würde eher zu seinem Lehrer Platon passen. Aristoteles dagegen ist wie ein Bergsteiger, der den Raum überwinden kann. Er zoomt nicht nur Details mit seinem Fernglas heran – er beamt sich direkt zu dem Gegenstand, den er untersuchen will, und wechselt so ständig seine Perspektive.

Natürlich besaß auch Platon schon eine ungeheure Vielseitigkeit und Wendigkeit des Geistes. Aber erst Aristoteles verabschiedet sich konsequent von der Vorstellung, alles aus einem Blickwinkel beurteilen zu können. Stattdessen versucht er, für jeden Wissensbereich – ob Mathematik, Logik, Politik, Kultur, Zoologie, Religion oder Ethik – den Blickwinkel zu gewinnen, der diesem Bereich am angemessensten ist. Und das, ohne die Frage aus den Augen zu verlieren, wie all diese so unterschiedlichen Erkenntnissphären zusammenhängen.

Kurz: Wenn es einen idealen Philosophen gibt, dann ist es Aristoteles. Umso verstörender ist es, wie sehr gerade er uns in die Irre führen kann.

 

Xenophob, chauvinistisch, brutal

Denn Aristoteles war nicht nur der größte und am umfassendsten gebildete Philosoph seiner Zeit. Er hat auch grausame Tierversuche durchgeführt, in allen Fremden natürliche Sklaven der Griechen und Makedonen gesehen, sich gegen die Emanzipation der Frau ausgesprochen und als Prinzen-Erzieher die rücksichtslose Brutalität des späteren Kaisers Alexander des „Großen“ nach Kräften gefördert.

Er war eben Kind seiner Zeit, mag man sagen. Dürfen wir ihm das zugute halten? Ist Aristoteles durch seine Zeitumstände entschuldigt? Ist er also – überholt?

Nun: Als Logiker und Lehrer des philosophischen Denkens wird Aristoteles nie überholt sein. Aber moralisch war er bereits zu seiner Zeit längst überholt: Achtsamkeit gegenüber den Tieren predigte lange vor ihm Empedokles. Gegen Fremdenfeindlichkeit und Sklaverei wandten sich ebenfalls vor ihm die fortschrittlich Gesinnten unter den Sophisten. Über eine gesellschaftliche Aufwertung der Frau dachte bereits Platon nach. Und gegen den Krieg hat vor Aristoteles der Komödiendichter Aristophanes angeschrieben.

Dann hat Aristoteles die fortschrittlichen Ideen seiner Vorgänger vielleicht gar nicht gekannt? Doch, das hat er. Er hat diese Ideen referiert – und verworfen.

Aristoteles, der größte Philosoph seiner Zeit, hat dasjenige verfehlt, ohne das alles andere nichts ist: Mitgefühl mit allem, was lebt und fühlt. Wir müssen festhalten: Philosophische Erkenntnis schützt vor Unmenschlichkeit nicht. Daran hat sich seit damals nichts geändert. Noch Martin Heidegger, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, war in seiner ganzen Philosophen-Herrlichkeit so dämlich, dass er sogar der Nazi-Ideologie auf den Leim ging.

 

Wozu dann überhaupt Philosophie?

Wenn selbst die größten Philosophen, an die wir Normalsterblichen nie heranreichen werden, so grässlich daneben greifen: Was soll dann die ganze Philosophiererei?

Große Philosophen können uns lehren, die Wirklichkeit immer tiefer zu durchdringen und aus immer neuen Blickwinkeln zu betrachten. Bereichernder als ein Strandlümmelurlaub im abgeschirmten Touristen-Resort ist das allemal. Aber wenn Sie moralische Orientierung suchen, lassen Sie sich den Ausruf Jesu durch Kopf und Herz gehen (Lk 10, 21): „Ich preise dich, Vater des Himmels und der Erde, dass du dies den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.“

 

Gregor Bauer