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Christen heute, Februar 2017

Flavius Josephus: Was wir alles nicht wüssten, wenn er ein „Held“ gewesen wäre

Wie genau nahmen es die Autoren der Evangelien mit den historischen Tatsachen?

Bei den Wundergeschichten sparen wir uns die Frage mittlerweile, bei vielen Ereignissen wie der Geburt Jesu in Bethlehem kommt es uns nicht mehr so darauf an. Aber wir würden beispielsweise schon gerne wissen, welche der „Worte Jesu“ tatsächlich von Jesus selbst sind. Ganz gleichgültig ist uns die Frage nach der historischen Wahrheit also nicht.

Vielleicht kann uns ein Autor weiterhelfen, der ungefähr in der Zeit und Weltregion geschrieben hat, in der auch die Evangelien entstanden: der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (*37 oder 38, + nach 100).

 

Ein Jude des ersten Jahrhunderts vermittelt den Römern die Bibel

Im ersten Teil seines Geschichtswerks „Jüdische Altertümer“ hat es Flavius Josephus unternommen, als Jude einem römisch-griechischen Publikum den Inhalt seiner Heiligen Schrift wiederzugeben. Diese Heilige Schrift entspricht in etwa unserem Alten Testament. Welche Leser-Erwartungen Josephus mit seinem Buch bedienen wollte, davon haben wir eine ungefähre Vorstellung. An solchen Leser-Erwartungen orientieren wir uns ja auch, wenn wir die Evangelien interpretieren. Aber bei Flavius Josephus wissen wir mehr: Wir kennen sozusagen auch die „historischen Tatsachen“ selbst! Genauer: Wir kennen die biblische Vorlage, die Josephus wiedergeben wollte. Wir können also die „Tatsachen“ – das Alte Testament – und das, was Josephus daraus gemacht hat – seine „Altertümer“ – direkt miteinander vergleichen. So können wir feststellen, wie weit ein jüdischer Historiker damals bereit war, seinem Publikum zuliebe von den Tatsachen abzuweichen.

Josephus ist teilweise erheblich von seinem Original abgewichen. Er muss also davon ausgegangen sein, dass seine Leserschaft entweder das Original – die Bibel – nie lesen würde, oder dass sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen würde.

Recht genau an die Vorlage hält sich Josephus beim biblischen Schöpfungsbericht. Er liest ihn völlig anders als wir: Er fasst ihn ganz selbstverständlich als historisch und naturwissenschaftlich zuverlässigen Tatsachenbericht auf. Historische Tatsachen sind für ihn auch die Sintflut – Josephus verortet Reste von Noahs Arche in Armenien –, die Lebenserwartung vieler Urväter von mehr als 800 Jahren, die Teilung des Roten Meers und vieles Wundersame mehr.

 

Gewalt

Die alttestamentarischen Berichte über religiös motivierte Gewalt hat Josephus insgesamt aufrichtig wiedergegeben. Aber nicht, weil er keine Tatsachen verdrehen wollte – das hat er an anderer Stelle sehr wohl getan –, sondern weil offensichtlich weder er selbst noch sein römisches Publikum mit religiös motivierter Gewalt Probleme hatte: Die Ausrottung der Bevölkerung Jerichos fand er ebensowenig anstößig wie das Massaker des Elias an den Baals-Priestern. Auch mit der entsetzlichen, von Gott verhängten Kollektivstrafe der zehn ägyptischen Plagen hatte es offenbar seine Richtigkeit.

Umso mehr erstaunt, dass wir Josephus ausgerechnet beim Thema Gewalt in einem anderen Zusammenhang mit einer Mogelpackung erwischen: Derselbe Autor, der in den „Jüdischen Altertümern“ die göttlich befohlene Gewalt gegen Jericho schildert, ruft in einem früheren Werk – dem „Jüdischen Krieg“ – während der Belagerung Jerusalems den eingeschlossenen Aufständischen zu: „Mit Waffen wollt ihr die Römer bekämpfen? Wen haben wir denn jemals auf diese Weise besiegt?“ (5,376f). Gesiegt, so Josephus weiter, hätten die Vorfahren immer nur, wenn sie, „ohne zum Schwert zu greifen, Gott die Entscheidung anheimstellten.“

Das klingt schön. Vor allem in den Ohren der Römer, als deren eingebetteter Journalist Josephus damals unterwegs war. Aber mit der biblischen Geschichte hat es wenig bis nichts zu tun.

 

Mose als hellenistischer Held

Schauen wir Josephus noch ein wenig beim Mogeln – oder wie wollen wir es nennen? – über die Schulter: Lesen wir, wie er in seinen „Altertümern“ den biblischen Mose umgeschrieben hat in einen hellenistischen Helden ganz nach dem Geschmack seiner römisch-griechischen Klientel.

Vor der Geburt eines hellenistischen Helden sollten göttliche Weissagungen über sein künftiges Schicksal ergehen. Also berichtet Josephus von derartigen Weissagungen, obwohl davon nichts in der Bibel steht. Ein hellenistischer Held sollte früh militärische Ehren erringen und standesgemäß verheiratet werden. Also lässt Josephus seinen Mose unbiblisch ein äthiopisches Heer besiegen und die äthiopische Königstochter heiraten. Römische Sklavenhalter mögen Helden nicht, die sich gegen die Sklaverei empören. Also unterschlägt Josephus, dass Mose einen ägyptischen Sklavenpeiniger umbringt. Dass Mose nach dieser Tat aus Ägypten fliehen musste, kann er freilich nicht weglassen. Also führt er für diese Flucht andere Gründe an, von denen nichts in der Bibel steht. Und was ist mit dem Mose, der am Sinai im Zorn die Kontrolle über sich selbst verliert und heilige Gesetzestafeln zerschmettert? Bei dem würde das römisch-griechische Publikum die stoische Abgeklärtheit vermissen. Also lässt Josephus dieses herrliche Bild weg.

Welche Rückschlüsse erlaubt dies auf die Evangelien? Gut möglich, dass ihre Quellen, Autoren und Redaktoren ähnlich elastisch mit den historischen Tatsachen umgegangen sind wie Josephus mit seiner Vorlage. Doch auch dann würde in den Evangelien viel historische Wahrheit stecken. Denn immerhin gibt Josephus das Alte Testament – trotz aller Abweichungen im Einzelnen – in groben Zügen über weite Strecken durchaus korrekt wieder.

 

Schwer zu vereinnahmen

Doch Josephus hat weit mehr verfasst als die Inhaltsangabe eines Buches, das wir auch ohne ihn kennen: Vor allem ist er nahezu die einzige Quelle für die jüdische Geschichte des ersten vor- und nachchristlichen Jahrhunderts. Ohne sein Werk „verlöre sich für uns die Welt, von der das Neue Testament erzählt, abseits der Weltgeschichte auf einer fast weißen Landkarte“ (Christine Gerber). 

Einzig Josephus erzählt uns auch die Geschichte vom Widerstand der Rebellen von Masada gegen die Römer (66 – 73/74 n. Chr.). Auf seinen Bericht bezog sich der Staat Israel, als er in den 1950er-Jahren begann, die Festung Masada als grandiose Kulisse für seine Rekruten-Vereidigungen zu nutzen. Dabei lesen wir bei Josephus, dass die Helden von Masada rücksichtslose Terroristen waren, die auch nicht davor zurückschreckten, andersdenkende Juden zu ermorden. Auch bildete der Massen-Suizid der Masada-Krieger kurz vor dem Sieg der Römer eine grauenhafte Analogie zu den Selbsttötungen vieler israelischer Soldaten, die in den besetzten Gebieten einem enormen seelischen Druck ausgesetzt sind. Wohl deshalb werden seit den 90er-Jahren keine Wehrpflichtigen mehr auf Masada vereidigt.

Das Beispiel zeigt, auf wie heikles Terrain sich begibt, wer auch immer Josephus für politische und religiöse Ziele vereinnahmen will. Heute der einzige Gewährsmann für den Heroenkult um Masada, hat er damals die Aufständischen von Masada verabscheut. Heute eine der wichtigsten Quellen jüdischer Identität, galt er seinen jüdischen Zeitgenossen als Verräter. Sie warfen ihm vor, dass er sich in auswegloser Lage feige den Römern ausgeliefert habe, statt heroisch den Freitod zu wählen. So wurde er zum Chronisten derer, die ihn hassten. Wenn die frühen Christen sein Werk nicht für ihre antijudaistische Propaganda instrumentalisiert hätten, wäre es heute verschollen. Diese mannigfaltigen Brüche in Biographie und Rezeption des Flavius Josephus sollten wir uns klar machen, wenn wir ihn lesen.

Was aber sein brüchiges Verhältnis zur Wahrheit angeht: Nehmen wir es denn mit der Wahrheit genauer?

„Bei Gott geht es immer um Freiheit und Befreiung“: Das sei ein, vielleicht das Grundthema der Bibel, lese ich in der Einleitung zu einer modernen Bibelübersetzung. Wenn ich dagegen halte, wie oft das Alte Testament Menschen einschüchtert, statt sie zu befreien: Dann frage ich mich, ob wir – wie wissenschaftlich wir uns auch gebärden mögen – am Ende des Tages wirklich redlicher sind als Josephus: Ob nicht auch wir in die Bibel hineinlesen, was wir darin eben finden wollen.

 

Gregor Bauer